zur Erinnerung
1962 einen DDR-Grenzpolizisten ermordet

Das falsche Kaliber

In Berlin steht ein ehemaliger Fluchthelfer vor Gericht, weil er vor 36 Jahren einen DDR-Grenzpolizisten ermordet haben soll.

Von Sebastian Lehmann und Michael Sontheimer

21.12.1998

Wenige Meter vor dem Ziel versperrte ein Uniformierter der fünfköpfigen Gruppe den Weg zum Haus Zimmerstraße 56 in Berlin-Mitte. "Die Ausweise", verlangte der DDR-Grenzer. Rudolf Müller griff gehorsam in die linke Innentasche des Jacketts.

Sekunden später lag der Gefreite am Boden, in Brust und Rücken von Reinhold Huhn, 20, steckten Kugeln des Kalibers 7, 65 Millimeter. Durch die Abendstunden des 18. Juni 1962 hämmerten Feuerstöße aus der Kalaschnikow eines zweiten Volkspolizisten. Müller kümmerte sich nicht um den Verletzten. Er floh mit Frau, Kindern und Schwägerin durch einen 22 Meter langen Tunnel, den er selbst gegraben hatte, in den Westen.

Während Huhn verblutete, ließ sich der Fluchthelfer im nahe gelegenen Springer-Hochhaus als Held feiern, der seine Familie in die Freiheit geholt hatte. "Bild"-Berlin-Chef Hermann Burnitz kredenzte Whisky, und Müller schilderte in einer Pressekonferenz Fluchthilfe und Flucht.

Jetzt, 36 Jahre nach diesem Auftritt als Freiheitskämpfer im Kalten Krieg, steht Müller als Angeklagter vor der 40. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin - er muss sich wegen Mordes verantworten.

Es ist ein Mauerschützenprozeß der anderen Art. In mehr als hundert Verfahren seit der Wiedervereinigung wurden rund 80 frühere Vopos und NVA-Soldaten wegen der Schüsse an der Grenze verurteilt, doch Müller ist der erste westdeutsche Fluchthelfer, der vor Gericht steht.

Dass es überhaupt dazu kam, ist Folge des Leseeifers westdeutscher Strafverfolger nach der Wende. In den Akten der Staatsanwaltschaft Ost und den Stasi-Aufzeichnungen fanden sie eine ganz andere Version des Grenzzwischenfalls, als Müller sie nach der Flucht gegeben hatte.

Die Staatsanwaltschaft glaubt nachweisen zu können, dass der inzwischen 67 Jahre alte gelernte Bäcker, der seit den Todesschüssen an der Berliner Mauer in Hessen lebt, den arglosen DDR-Grenzer heimtückisch getötet hat. Außerdem habe er dem am Boden liegenden Huhn noch in den Rücken geschossen.

Wird Müller verurteilt, muss eine Episode des Kalten Krieges neu geschrieben werden. Beide Seiten hatten die Flucht für ihre Propagandaschlachten genutzt, die Wahrheit hatte weder Ost noch West richtig interessiert. So weigerte sich damals die DDR strikt, ihre Ermittlungsakten den Westalliierten zugänglich zu machen.

Müller hatte sich am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, allein in den Westen abgesetzt. Um seine Frau und beide Söhne nachzuholen, plante er den Tunnel besonders sorgfältig. Mit Genehmigung der Leitung des Axel-Springer-Verlages buddelte sich der Fluchthelfer vom Verlagsgelände aus zusammen mit Freunden und seinen drei Brüdern wochenlang unter dem Todesstreifen durch.

Unterstützung erfuhr die Truppe reichlich. So fungierte Springer-Hausmeister Tom Hammerschmidt, heute 67, als Kontaktmann zwischen Fluchthelfer und Geschäftsleitung. Als der Tunnel am 18. Juni fertig war, holte Müller seine Familie persönlich im Ostsektor ab.

Über den Schusswechsel nahe des Tunneleingangs gab es zwei sehr unterschiedliche Versionen. Müller behauptete gegenüber der Berliner Polizei, er habe gar keine Waffe dabei gehabt. Die tödlichen Kugeln stammten aus den Maschinenpistolen der anderen DDR-Grenzer.

"Schießwütige Vopos töteten eigenen Posten" schrieb der "Tagesspiegel". Auch die West-Berliner Staatsanwälte glaubten Müllers Version und stellten ihre Ermittlungen ein. Dabei hätten sie es besser wissen können. Kurz nach der Flucht hatte Müller gegenüber Journalisten zugegeben, zumindest einmal geschossen zu haben: "Der Mann fiel sofort um."

Die SED-Presse beschwor das Bild eines "Frontstadt-Banditen" ("Neues Deutschland") und mörderischen Westagenten. Bis zum Ende der DDR wurde Vopo Huhn als Märtyrer verklärt und ging in die realsozialistischen Geschichtsbücher ein. Der West-Berliner Senat dagegen verbreitete mit Unterstützung der Westalliierten zunächst die These vom Vopo-Mord am Vopo Huhn (SPIEGEL 27/1962). Senatssprecher Egon Bahr (SPD) ließ wissen, Müller habe Huhn nur einen "Uppercut versetzt", bevor den die Kugeln der eigenen Leute töteten.

Das Gericht hat zur späten Aufklärung des Todesfalls an der Mauer zwölf Verhandlungstage angesetzt. Die Anklage glaubt ausschließen zu können, dass Huhn von Kollegen erschossen wurde: Die benutzten ein anderes Kaliber (7,62 oder 9,0 Millimeter), als es die tödlichen Projektile hatten.

Müller, derzeit gegen eine Kaution von 100.000 Mark auf freiem Fuß, hat bei der Verkündung des Haftbefehls jede Tötungsabsicht bestritten. Sollte er geschossen haben, sagt sein Anwalt Volkmar Mehle, sei es auf jeden Fall Notwehr gewesen. Auch ein anderer Müller-Vertrauter bestreitet die Darstellung der Staatsanwälte: Die hätten "einfach aus der Stasi-Akte abgeschrieben".

An den postum zum Unteroffizier beförderten Reinhold Huhn, einen von Hunderten Toten an der innerdeutschen Grenze, erinnert heute nichts mehr. Das Huhn und 24 Kollegen gewidmete "Denkmal für die gefallenen Grenzer" wurde 1994 auf Geheiß des Berliner Senats abgebaut. Und die Reinhold-Huhn-Straße heißt, makaber genug, wieder, wie sie schon vor den Schüssen hieß: Schützenstraße.

SEBASTIAN LEHMANN, MICHAEL SONTHEIMER


Quelle: spiegel.de 21.12.1998


Hilfe aus den eigenen Reihen

Von Sebastian Lehmann

22.02.1999

Bei einer der größten Propagandaschlachten des Kalten Krieges spielte der Westen falsch: Er deckte einen Fluchthelfer, der 1962 einen Vopo erschoss. Als Rolf Pamp im Frühjahr 1962 angeworben wurde, hatte ihm der Bundesnachrichtendienst (BND) eine tragende Rolle im Kalten Krieg zugedacht. Pamp, damals 19 und kurz vor dem Mauerbau in den Westen gewechselt, sollte in die DDR zurückkehren und Militäranlagen für den BND ausspähen.

Aus der großen Spitzelkarriere wurde nichts, Pamp flog schon nach wenigen Wochen auf - sein Vater hatte das Codebuch gefunden und ihn an die Stasi verraten. Doch der gescheiterte Spion, so zeigte sich jetzt beim Prozess gegen einen ehemaligen Fluchthelfer, wurde vorher qua Dienstauftrag zum Kronzeugen in einer der größten Propagandaschlachten zwischen Deutschland West und Deutschland Ost.

In den Abendstunden des 18. Juni 1962 war der DDR-Grenzpolizist Reinhold Huhn erschossen worden, als er den Fluchtversuch seiner fünfköpfigen Familie durch einen Tunnel unter der Mauer hindurch verhindern wollte. Vom Tod des Vopos existierten bis zum vergangenen Donnerstag zwei Versionen. Die eine (West) behauptete, Huhn sei von den eigenen Kollegen getroffen worden. Die andere (Ost) nannte den Fluchthelfer und Familienvater Rudolf Müller als Todesschützen.

Vor der 40. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin gab der inzwischen 68 Jahre alte Müller nun zu, "mit vor Angst vollgeschissenen Hosen" auf Huhn geschossen zu haben, um die Flucht seiner Familie zu sichern. Der gelernte Bäcker, der seit den Mauerschüssen im Hessischen lebt, hatte zwei Monate vor Gericht geschwiegen und sich dann auf Notwehr "in äußerster Panik" berufen.

In seiner zweistündigen Einlassung hatte Müller vor allem versucht, seine Rolle in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung zu erklären - er sei weder Held noch skrupelloser Fluchthelfer gewesen.

Die SED-Presse hatte nach den Schüssen das Bild eines "Mörders" und "Frontstadt-Banditen" ("Neues Deutschland") gezeichnet und Vopo Huhn als Märtyrer verklärt. Dagegen verbreitete der West-Berliner Senat mit Unterstützung der Westalliierten die These vom Vopo-Mord am Vopo Huhn. "Schießwütige Vopos töteten eigenen Posten", schrieb der "Tagesspiegel", und die "BZ" blieb auch nach ersten Zweifeln bei dieser Version: "Pankows Menschenjäger können lügen, soviel sie wollen ... Huhn ist von seinen eigenen Leuten getötet worden."

Dabei wussten es die westdeutschen Behörden schon damals längst besser - sie hatten sich an der Legendenbildung sogar aktiv beteiligt. Schon am Tunnelausgang auf dem Gelände des Springer-Verlags - von hier aus hatte Müller den Stollen mit Billigung der Geschäftsleitung und Hilfestellung des Hausmeisters gegraben - nahmen ihm Staatsschützer die Pistole vom Kaliber 7,65 ab. Ihm wurde verboten, darüber zu reden.

Müller durfte sich im Springer-Hochhaus im Beisein des damaligen Senatssprechers Egon Bahr sowie von Innensenator Heinrich Albertz für wenige Stunden als Held feiern lassen, dann übernahmen die Geheimdienste der drei Westmächte und der Bundesrepublik die Regie. Die Amerikaner sorgten dafür, dass er samt Familie von Berlin ins hessische Oberursel ausgeflogen wurde. Die eifrigen Helfer sind für Müller noch heute "Krawattenträger, von denen sich keiner bei mir ausgewiesen hat".

Für die Einstellung des Ermittlungsverfahrens sorgten die Deutschen. Der gerade erst vom BND rekrutierte Rolf Pamp ("Man hat mich in einer Kneipe angesprochen und gleich angeheuert") erhielt den Auftrag, sich unter dem Namen "Hartmut Böhmer" beim Berliner Staatsschutz zu melden. Hier lieferte er vier Tage nach den Mauerschüssen die bestellte Aussage ab.

Böhmer alias Pamp gab an, gerade aus der DDR geflüchtet zu sein. Dort habe er bis zuletzt als Fernseh-Kameramann gearbeitet. Sein Team habe die Leiche Huhns in einer Leichenhalle in Berlin-Treptow filmen müssen. Dabei habe er genau gesehen, dass Huhns Körper "vier Einschüsse" aufgewiesen habe.

Die West-Berliner Behörden nahmen die Aussage als eindeutigen Beweis für die These, dass Huhn MP-Salven seiner Kameraden zum Opfer gefallen war. Der damalige Erste Staatsanwalt Joachim Gast stellte das Verfahren ohne große weitere Nachprüfungen ein. Staatsanwalt Dirk Klöpperpieper, der jetzt in dem Mauerschützenprozess der anderen Art zuständig ist, glaubt: "Damals wollte man die Ergebnisse so haben."

Selbst Rudolf Müller, den die Mauscheleien für Jahrzehnte vom Tötungsvorwurf entlasteten, ist heute "stinkig darüber, dass die sich eingemischt haben". Der einst als Freiheitskämpfer im Kalten Krieg Gefeierte sieht sich inzwischen eher als Opfer: "Alle reiten auf meinem Schicksal rum. Vielleicht wäre ich schon damals wegen Notwehr freigesprochen worden."

Doch die Helfer von einst tun, als gäbe es den Kalten Krieg immer noch. Sieben Jahre lang versuchten Staatsanwaltschaft und Gericht, den BND und die Geheimdienste der Westalliierten zu einer Aussage oder zur Herausgabe von Beweismitteln im Fall Huhn zu bewegen. Ergebnis: negativ.

Späte Reue überkam immerhin Egon Bahr, der 1962 noch behauptet hatte, Müller habe Huhn nur einen "Uppercut versetzt". Man habe sich damals, so der Ex-Senatssprecher unlängst in einem "taz"-Interview, "nicht nur an die Regeln eines Mädchenpensionats gehalten". SEBASTIAN LEHMANN

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Quelle: spiegel.de 22.02.1999 von Sebastian Lehmann


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08